Parnassiens: Die Poesie des »L'art pour l'art«

Parnassiens: Die Poesie des »L'art pour l'art«
Parnassiens: Die Poesie des »L'art pour l'art«
 
Der Begriff des »L'art pour l'art« erweckt heute nicht unbedingt positive Vorstellungen. Schon die gängige Übersetzung »Kunst um der Kunst willen« lässt auf eine gegenwartsfremde, formfixierte Künstlichkeit schließen, die im Kult der Schönheit verharrt und sich dem Engagement zum Nutzen der Gesellschaft verweigert. Diese Vorwürfe, die schon im 19. Jahrhundert erhoben wurden, zeugen auch vom anhaltenden Triumph der bürgerlichen Gesinnungsästhetik, für die »Kunst« einen Nutzen haben muss. Entgegen landläufiger Fehleinschätzungen bezeichnet L'art pour l'art jedoch eine Theorie, die der Kunst ihre Autonomie zuerkennt. Die schon in der Romantik formulierte Auffassung vom Eigenwert der Kunst wird ausgebaut: Die Kunst hat nur ihre eigenen Gesetzen und ist nur ihnen verpflichtet, sie hat ihren Zweck in sich selbst. Der Wert eines Kunstwerks kann nur ästhetisch bestimmt werden, alle fremden Elemente, seien es gesellschaftliche, politische oder religiöse, sind dafür untauglich. Die Darstellung des nutzlos Schönen ist das Ziel des Künstlers, der damit eine priesterliche Aura erhält. L'art pour l'art spielte in den ästhetischen Debatten seit Jahrhundertbeginn eine Rolle; in den Dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts formulierte am deutlichsten Théophile Gautier dieses Konzept, wenngleich er den Begriff sparsam verwendete.
 
Das Vorwort zu Gautiers Roman »Mademoiselle de Maupin« (1835) hat programmatischen Charakter. Hier findet sich die viel zitierte Formel, alles Nützliche sei hässlich, schön könne nur sein, was zu nichts diene. Gautier, der zunächst Maler werden wollte und dessen künstlerische Doppelbegabung auch in seinem lyrischen Werk spürbar bleibt, war ein Bewunderer Victor Hugos und trug aktiv zur Durchsetzung der romantischen Ästhetik bei. 1830 führte er in der »Hernani-Schlacht« um Hugos Drama »Hernani« als »Bürgerschreck« in der roten Weste die Claqueure an, die den Erfolg des Stücks sicherten. Auf die Entwicklung der Lyrik hatte besonders sein Gedichtband »Emaillen und Kameen«, der zu Gautiers Lebzeiten sechs Auflagen erreichte, großen Einfluss. Das darin enthaltene Gedicht »Die Kunst« unterstreicht den Anspruch des Künstlers, in der vergänglichen Welt ewige Kunstwerke zu schaffen, die indes harter Arbeit an der schwierigen Form bedürfen, um die Zeiten zu überdauern. Damit wandte sich Gautier vom Subjektivismus und dem formvergessenen Gefühlsüberschwang der Romantik ab. Seine Gedichte zeugen von formaler Perfektion, plastischer Beschreibungskraft und beherrschter Distanz des Künstlers, der den Wert des richtigen Wortes mit dem eines Edelsteins verglich. Gautier, der zahlreiche Länder Europas und das Mittelmeer von eigenen Reisen kannte, führte vor allem spanische und orientalische Motive in seine Lyrik ein und hatte damit Anteil am Exotismus der Zeit. Er wirkte auf Charles Baudelaire, der ihn als »tadellosen Dichter« verehrte, die Symbolisten und die Lyriker des »Parnasse«.
 
1866 erschien der erste Band der Gedichtsammlung »Le Parnasse contemporain« (= Der zeitgenössische Parnass). In diesem Sammelwerk waren die bekannten Dichter der Zeit vertreten: Charles Baudelaire, Théophile Gautier, Paul Verlaine, Stéphane Mallarmé, Théodore de Banville, Leconte de Lisle, José-María de Heredia, Catulle Mendès, Léon Dierx, François Coppée, Sully Prudhomme und viele andere mehr. Die »Parnassiens« werden gerne als Dichterschule gesehen. Doch es waren recht unterschiedliche Dichterpersönlichkeiten, die die Nähe zu Gautiers Ästhetik des L'art pour l'art verband. Sie standen zwischen der Romantik, deren Sentimentalismus Ziel des Spotts wurde, und einer Dichtung, die sich dem gesellschaftlichen Nutzen verschrieben hat. Ihr Engagement galt hauptsächlich der Kunst: der Wiederbelebung und Perfektionierung traditioneller Formen, der Suche nach dem Schönen in der von den Wissenschaften beherrschten Welt. Sie sahen den Dichter als Kunsthandwerker, der in harter Arbeit am schwierigen Material des Verses Werke hervorbringt, die ihn unsterblich machen. Die Nähe zur Bildhauerei wird in diesen Umschreibungen deutlich, theoretisch wie praktisch: die plastisch und farbig beschriebenen Objekte in den Gedichten tendieren zur Versteinerung, die Poesie zur Statue. Die Sprache, das Material der Dichter, sollte gereinigt werden, bis jene göttliche Schönheit erreicht ist, die an den Skulpturen der griechischen Antike fasziniert. Diese recht unpolitische Haltung kann man »klassizistisch« oder »neoromantisch« nennen; die Gefahr einer verfälschenden Etikettierung ist bei den Dichtern des Parnasse jedenfalls groß. Angemessener ist die Würdigung der einzelnen Persönlichkeit.
 
Baudelaire und die späteren Symbolisten, die im ersten Band des »Parnasse« vertreten sind, gingen eigene Wege. Der auf La Réunion im Indischen Ozean geborene Charles Marie René Leconte, genannt Leconte de Lisle, wandte sich nach der gescheiterten Revolution von 1848 ganz der Poesie zu. In seinen »Poèmes antiques« (= antike Gedichte) von 1852 beschwor er die griechisch-antike und die altindische Welt, in der die Kunst mit der Religion versöhnt, mit dem Leben vereint gewesen sei. Die späteren Zeiten beurteilte Leconte de Lisle als dekadent gemessen am perfekten Vorbild der Antike, die durch strenges Studium, Übersetzung und Nachahmung indes wiedererschaffen werden könne. Dieses Vertrauen in die Macht des Künstlers kann sein pessimistisches Weltbild jedoch kaum verdecken. Der humanistisch gebildete und mit der exotischen Welt seiner Heimat vertraute Leconte de Lisle wandte sich in seinen späteren Gedichtsammlungen »Poèmes barbares« und »Poèmes tragiques« auch nordischen und mittelalterlichen Stoffen zu. Primitives Heldentum und blutige Massaker beschrieb er mit eisiger Faszination für Gewalt und Tod. Die Ambivalenz, die hier zum Ausdruck kommt, bestimmte auch die Haltung Leconte de Lisles zu den modernen Naturwissenschaften, die einerseits bessere Kenntnis der Antike und der Naturgesetze ermöglichen, andererseits der verwissenschaftlichten Welt die Poesie austreiben. Der (antichristliche) Pantheismus, der aus den Gedichten Leconte de Lisles spricht, steht auch für die Absicht des Autors, die Kunst mit Religion, Geschichte und Wissenschaft zu versöhnen. Théodore de Banville, ein republikanisch gesinnter Aristokrat, war ein zu seiner Zeit gefeierter Lyriker, der sich der Wiederentdeckung traditioneller Formen der Dichtung verschrieben hatte. Seine virtuosen Gedichtsammlungen, die »Odes funambulesques« (= Seiltänzerische Oden, 1857) beispielsweise, spielen - zuweilen ironisch - mit der französischen Lyriktradition der vergangenen Jahrhunderte. In seiner theoretischen Abhandlung über die französische Poesie erläutert er seine impressionistische Ästhetik und erkennt dem Reim eine Schlüsselstellung in der Verskunst zu. Seine Werke, getragen vom antibürgerlichen Streben nach dem Schönen, sind vom Vorwurf des Formalismus wohl nicht ganz freizusprechen.
 
José-Maria de Heredia machte 1893 durch die meisterhaften Sonette seines Lyrikbandes »Trophäen« auf sich aufmerksam. Er war der vielleicht bedeutendste Vertreter der jüngeren Parnassegeneration, der sich selbst kein Genie, aber Talent attestierte. Seine formvollendeten Sonette zeugen von Musikalität und Berechnung. Catulle Mendès, gegen Gautiers Willen dessen Schwiegersohn, kommen hinsichtlich der Parnasse-Anthologie hauptsächlich die Verdienste eines Herausgebers zu. Bedeutender als seine vorwiegend epigonale Dichtung ist womöglich die Vermittlung des Werks Richard Wagners nach Frankreich. Das umfangreiche lyrische Werk René Francois Armand Prudhommes, genannt Sully Prudhomme, wurde 1901 mit dem ersten Nobelpreis für Literatur gekrönt - was wohl als stellvertretende Huldigung an die bedeutende Poesie des Parnasse zu sehen ist.
 
Ludger Scherer

Universal-Lexikon. 2012.

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